Die Glut der Vertiefung

Graphik und Malerei

Ausstellung im Pool der zeitgenössischen Kunst
Bucher Straße 83, 90419 Nürnberg

Vernissage: Freitag, 29. Juli 2016, 19 Uhr
Ausstellung: bis Mitte September 2016

Öffnungszeiten
Mi., Do. und Fr. 15–20 Uhr
Sa. 11–16 Uhr sowie nach vorheriger Vereinbarung

→ www.bunsengoetz.de
→ Ausstellungsankündigung (PDF)

Im Anfang war das Bild

Christoph Haupts „Pu-Bild“
von Dr. Friedrich Garbarian, St.Gallen im April 2014

Das „Pu-Bild“ zeigt ein Mädchen in einem Interieur sitzend. Der, mit großer malerischer Genüßlichkeit herausgearbeitete, Hautausschlag des Mädchens dürfte ursächlich mit der, in ihren Zügen deutlich wahrnehmbaren, agressiven Frustration zusammen hängen. Durch die großen Fenster sieht man einen blauen Himmel, der von seltsamen Schäfchen-Wolken durchzogen wird, die in diesem Zusammenhang wie hypertrophierte Talgdrüsen erscheinen. Auf der Fensterscheibe kann man seitenverkehrt das vom Bildrand abgeschnittene Wort Pu lesen. Steht es für Pubertät oder Pustel oder das englische pub? Letzteres würde zu Haupts Erzählungen von einer London-Reise passen, in welchen er gerne die auf der Haut der Engländer sichtbaren Wirkungen der heimischen Küche schildert und mit der Parole „Gott strafe England!“ kommentiert. Zum Verständnis des Bildes scheinen uns diese Mutmaßungen kaum dienlich. Wir sind geneigt dieses Pu nicht als Wort-Fragment sondern als Interjektion zu begreifen, ohne festlegen zu wollen, von wem diese geäußert oder nicht geäußert wird – von der Dargestellten, dem Maler oder dem Betrachter.

 

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Auf dem Tisch vor dem Mädchen sieht man die Utensilien, die auf ein fast-food-Restaurant verweisen. Hinter ihr sieht man einen dominanten Faltenwurf wie ein halb herabgerissener Vorhang. Er involviert sowohl ein desolates Herabhängen als auch auch eine aufsteigende Kraft. Trotz massiver Konsistenz scheint er einer inneren Welt anzugehören.

Das Mädchen hält in einer Hand einen Behälter für einen drink, der trotz poppiger Farbigkeit wie ein wurfbereiter Sprengsatz erscheint. Auch die anderen Utensilien wirken martialisch. Obwohl ihre Formen auf Plasik-Besteck und Styrophor-Behälter verweisen, scheint alles aus Stahl zu sein, ja, selbst die Serviette wirkt wie ein mit brachialer Gewalt zerdrücktes Blech.
Dieser Diskrepanz zwischen Dinglichkeit und Erscheinungsform begegnen wir immer wieder in Haupts Werk. Diesem Maler, der mit Leichtigkeit den Material-Charakter etwa eines Seiden-Stoffes oder des Tuches eines Anzugs glaubhaft darstellt, kann man hier Absicht und Bedeutung unterstellen.

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Schaumgummi – oder eine Kalaschnikov wie eine Faschings- Attrappe, wobei das Schaumgummi-Mädchen, das ihren Finger am Abzug hat, dem selben Verwirr-Spiel angehört; die Projektile dieser Waffe sind wohl nicht aus Stahl aber mindestens so gefährlich wie solche. Nichts scheint wirklich das zu sein, was es begrifflich faßbar, zu sein vorgibt. Dieses Merkmal von Haupts Schaffen könnte man als malerische Unschärfe-Relation bezeichnen.
Es ist nun das dritte Bild Haupts, auf dem ein Mädchen mit ekligen Pickeln im Gesicht zu sehen ist, was auch bei Freunden von Haupts Malerei leicht verkrampftes Stirnrunzeln auslöst. Fragen werden gefragt – etwa: Wer soll denn da provoziert werden? Worauf Haupt mit der Gegenfrage antwortet: Wen wollte Grünewald mit seinem Isenheimer Altar provozieren?

Der Vergleich mit Grünewalds Kreuzigungs-Bild scheint originell genug zu sein, daß es sich lohnt der Sache nachzugehen. Ja, da ist ja auch ein Kreuz im „Pu-Bild“, das zunächst nur als harmloses Fensterkreuz gelesen wurde, vor das sich die Gepeinigte ganz zufällig gesetzt hat. Um zu verstehen, was Haupts pickliges Mädchen mit Grünewalds gekreuzigtem Christus zu tun hat, müssen wir allerdings weiter ausholen, tiefer graben und am besten ganz von vorne anfangen – ab ovo, nicht von der Hautkrankheit ausgehend.

Malerei, so wie wir diesen Begriff in der abendländischen Tradition verstehen, unterscheidet sich wesentlich von der Illustration, obwohl diese auch gemalt sein kann und sich beides sehr ähneln kann. Dabei ist die Malerei nicht „besser gemalt“ als die Illustration, nein, diese kann im Vortrag viel virtuoser sein, als jene – das ist sogar wahrscheinlich, denn die Illustration muß interessant sein, während die Malerei nur wahr sein muß. Der Unterschied liegt darin, daß die Illustration eine Abbildung ist – sie bildet eine Situation, einen Menschen oder sonst was ab, die Malerei aber ist eine Schöpfung. Die Malerei kann ebenfalls einen Bild-Gegenstand abbilden, da sie aber eine Schöpfung ist, transzendiert sie diesen und auch das Bild selbst, also das Ding an der Wand sowie den Verstand der die Sache zu begreifen versucht.

Das Prinzip ist einfach und leicht zu verstehen, wenn wir es durch ein Beispiel veranschaulichen –: Ein häufiger – vielleicht der häufigste – Bildgegenstand in der abendländischen Tradition ist eine Mutter mit Kind. Handelt es sich um eine Illustration, ist es einfach eine Abbildung einer Mutter mit Kind, die vielleicht in einen literarischen Zusammenhang gestellt ist. Das transzendierende Merkmal der Malerei aber bewirkt, daß wir die Mutter Gottes vor uns sehen.

Die Mutter Gottes hat nun die eine Schwierigkeit, daß sie in inflationärer Weise abgegriffen ist und die andere, daß diese Mutter Gottes zwar ein Potential hat, begriffliches Denken zu transzendieren, aber auch die Gefahr, in andere Begriffs-Systeme zu führen, die mit größerer Rigidität vertreten werden als die überwundenen.

Wählen wir ein abseitigeres Beispiel, das weniger mit widersprüchlichen Bedeutungen geladen ist, um das Prinzip zu verdeutlichen –: ein Vergewaltiger. Einen Vergewaltiger erachten wir wahrscheinlich mit gutem Recht als einen schlechten Menschen. Ein gemalter Vergewaltiger aber ist nicht schlecht – außer er ist schlecht gemalt. Hier tritt nun ein häufiges kulturelles Mißverständnis auf, das in der Unfähigkeit wurzelt, Illustration von Malerei zu unterscheiden. Der Rezipient mag sich etwa fragen, ob da einer einen Vergewaltiger gemalt hat, weil er Vergewaltiger gut findet oder selber gerne vergewaltigt. Das bedeutete, daß der Rezipient hier Illustration unterstellt, obwohl es sich möglicherweise um Malerei handelt.

Da wir nun nicht die Absicht haben, die Sache der Malerei in propagandistischer Weise gegenüber anderen Disziplinen wie der Illustration herauszustreichen, werden wir im Weiteren auf den Vergleich mit der Illustration verzichten, und auch auf den Begriff Malerei. Wir verzichten außerdem auf den Begriff Kunst, denn wir wollen sicher gehen, daß sich weder in die bildnerische Schöpfung noch in deren Besprechung Attitüden, Glaubensbekenntnisse oder sonstige rigide Ansichten einschleichen.

Wir gebrauchen nun den Begriff Bild und meinen damit ein Werk, das nicht einfach hergestellt ist –: Ein Bild, das diese Bezeichnung verdient, muß eingefangen werden – dort wo es keimt, aus dem Urgrund; es wird geschöpft, wo es knospengleich aus dem Ungekannten und Ungewußten sprießt – am Erfahrungshorizont, den unsere karge Kultur Unterbewußtsein nennt. Es entwickelt sich, wo es nicht durch Meinungen und Absichten vom Urbild abgeschnitten wird. Und es ist in dem Maße als Bild erkennbar, in dem der Betrachter die Bereitschaft aufbringt, in diese inneren Regionen zu folgen.

Wir sind jedoch gewöhnt jeder Wahrnehmung mit Zuneigung, Abneigung oder Gleichgültigkeit zu begegnen und aus diesen drei Wahrnehmungs-modi Vorstellungen zu gewinnen, die wir mit Wirklichkeit verwechseln. Wir hängen an jede Wahrnehmung verzögerungsfrei ein Bündel von Bewertungen – Begriffe von gut und schlecht, verwertbar und unverwertbar – und verwandte Konditionierungen. Wir sind vernebelt durch eine unablässig tätige, mental-emotionale Maschinerie. Wir gehen in ein Restaurant und essen die Speisekarte. Wenn dann der Kellner kommt und das Essen serviert, sind wir verwirrt und wir gehen an die Nachbartische um zu fragen, was das zu bedeuten hat.

Mancher ist der Ansicht, bei der Betrachtung eines Bildes käme es darauf an, die Gedanken und Absichten des Autors zu erraten. Das dient der Sache so viel, wie wenn man beim Essen versucht, die Gedanken des Kochs zu ergründen.

Die Fähigkeit der Betrachtung ist nicht sonderlich verbreitet. Das gilt auch für die Masse der penetranten Kunst-Beflissenen, die glauben ein Bild sei dazu da, geistreich kommentiert zu werden. Das kleine Mädchen, das mit offenem Mund das Gemälde anstaunt, das nicht weiß, was eine Komposition und ein Paradigmen-Wechsel sind oder was ein Gerhard Richter kostet - dieses Mädchen hat es eher begriffen.

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Betrachtung beginnt wohl mit einer Verstandestätigkeit – einer Bestandsaufnahme des Gesehenen. Jede weitere Verstandestätigkeit, wie interpretieren oder bewerten, nagt an der Wahrnehmung. Freilich ist die so begriffene Betrachtung nicht leicht und erfordert Einübung, doch das Bild kommt dem Betrachter auf halben Weg entgegen, denn es transzendiert Bildgegenstand, Bild und Verstand, der gewöhnlich in einem Denken in Gegensätzen – wie schön und häßlich – befangen ist.

Wozu aber nun diese Pickel im Bild? – Sie sind ein Fingerzeig auf die Transzendenz des Bildes. Sie sind in Bezug auf dieses vergleichbar mit dem Netz beim Tennis-Spiel. Läßt man es weg, wird das Spiel bequemer aber witzlos. Oder auch die Venus- Darstellung von Botticchelli: sie besitzt ebenfalls dieses transzendierende Merkmal, es ist jedoch nicht ganz klar, vielmehr mißverständlich. Jemand, der Botticchellis Venus rezipiert, aber nicht betrachtet, kann die dargestellte Frau attraktiv finden oder auch nicht, wenn er keinen Geschmack für Blonde hat – das transzendierende Merkmal entgeht diesem Rezipienten. Es wäre besser, wenn Botticchellis Venus Pickel hätte.

Nachschrift

Diese kleine Nachschrift enthält nichts, was unserer Abhandlung an Gedanken Wesentliches hinzufügen würde; sie wendet sich an denjenigen Leser, der glaubt, wir hätten die in Aussicht gestellte Klärung des Bedeutungs-Zusammenhangs zwischen Haupts „Pu- Bild“ und dem Isenheimer Altar vergessen oder einfach unter den Tisch fallen lassen. Dieser Leser mag ein Kunst-Freund sein oder ein Kunst-Sammler – er hat wahrscheinlich unserer Abhandlung zugestimmt, wir fürchten aber, daß er von dem durch ihn Zugestimmten nicht besonders durchdrungen ist. Der Kunst- Freund sagt etwa so: „Beim Isenheimer Altar handelt es sich um große Kunst, während dieses Bild einer Pickligen doch nur eine Provokation ist.“

Nun ist das bisher sorgsam vermiedene Wort Kunst mit unserem Kunst-Freund gleichsam durch die Hintertüre hereingekommen, und wir müssen uns zunächst damit befassen, was es bedeutet. Aus einer positivistischen Perspektive läßt sich Kunst nur als das definieren, was von einer Anzahl von Menschen für Kunst gehalten wird. Ohne dem positivistischem Aberglauben anzuhängen, scheint und dies bemerkenswert. Eine Anzahl älterer Damen hält Seiden-Malerei für Kunst, der Absolvent einer Kunst-Akademie hält einen mit Samt ausgeschlagenen Kühlschrank, der Töne von sich gibt oder dergleichen für Kunst, der Kunst-Experte hält das für Kunst, was eine Anzahl bedeutender Kunst-Experten vor ihm für Kunst gehalten haben. Für das Bild und dessen Betrachter ist es gleichgültig, ob das Bild Kunst genannt wird oder nicht. Das Wort Kunst bezeichnet nicht eine Sache sondern ist eine Bewertung, eine mehr oder weniger intellektuelle Vereinbarung. Es wird etwa verwendet um Identität und Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Kunst-Freunden zu schaffen. Haupts „Pu-Bild“ wird ebenso unwahrscheinlich eine solche Gemeinde finden, wie die Dargestellte einen Liebhaber.

Was bedeutet es nun, daß der Kunst-Freund sagt: „Beim Isenheimer Altar handelt es sich um große Kunst, während dieses Bild einer Pickligen doch nur eine Provokation ist“? Wie wir gesehen haben, transzendiert das Bild in Gegensätzen begriffenes Denken – wie könnte man da von einer Provokation sprechen? Der Kunst-Freund glaubt hier eine Provokation zu erkennen und dort große Kunst, weil er das Bild nicht als solches erkennt. Er kann es nicht ertragen, daß in Grünewalds Kreuzigungs-Bild die absolute Unerträglichkeit dargestellt ist, er übersieht diese einfach; und deshalb entgeht ihm auch, daß sie transzendiert wird. Er hält ja noch nicht einmal das Bild einer Pickligen aus – wie sollte er da das Bild eines mit Pest-Beulen behafteten Gekreuzigten ertragen können? So macht er die Sache für sich handhabbar: er verharmlost beides, indem er dieses große Kunst nennt und jenes Provokation. Kunst allein reicht ihm nicht – es muß große Kunst sein, der Kunst-Freund muß sicher gehen.

Wie steht es nun um unseren Kunst-Sammler? Der sagt etwa so: „In einem Museum kann man alles mögliche hinnehmen, aber bei mir daheim, über dem Sofa, da will ich was Schönes haben oder wenigstens Kunst.“ Ja, es ist offensichtlich –: auch der Kunst- Sammler hat die Harmlosigkeit gewählt. Was genau bedeuten aber seine Worte? Der Sammler will besitzen, und er will etwas Angenehmes besitzen, denn niemand will etwas Unangenehmes besitzen. Das Bild kann für ihn nur angenehm sein, wenn es einen schönen Bildgegenstand darstellt, denn ihm entgeht das transzendierende Merkmal des Bildes. Die Kunst aber muß ihm nicht unbedingt schön sein, denn sie kann auch auf andere Weise angenehm sein –: etwa durch Identitätsbildung oder durch die Schaffung einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Kunst- Freunden. Dazu muß das vom Kunst-Freund bejahte und vom Kunst-Sammler erwählte Etwas ein oder mehrere Merkmale zur Schau stellen, die wir Attitüden nennen. An diesen Attitüden erkennt der Kunst-Freund, daß es sich um Kunst handelt. Die künstlerische Attitüde kann hier in ihrem Reichtum an Variationen und Maskierungen nicht umfassend dargestellt werden – wir wollen uns auf zwei Beispiele beschränken.

Die Provokation haben wir bereits erwähnt, jedoch von der verdrehten Perspektive des Kunst-Freundes ausgehend. Nun wollen wir die Sache richtig stellen. Wir haben dargelegt, daß die Provokation nicht zum Bild gehört –: sie gehört zur Kunst, denn sie ist eine Attitüde. Wie jede künstlerische Attitüde ist die Provokation nicht das, was sie zu sein vorgibt –: Sie will gar nicht provozieren, sie kann gar nicht provozieren, denn der zu Provozierende könnte sich der Provokation ganz einfach entziehen, indem er sich mit der Sache nicht befaßt oder sie nicht als Kunst anerkennt. Die Provokation als künstlerische Attitüde hat die Funktion, einem Kunst-Freund oder einer Gruppe von Kunst-Freunden, die eine Provokation wünschen, diese aber nicht selbst leisten wollen oder können, Identität zu stiften.

Die künstlerische Attitüde ist nur wirksam wenn sie hinter einer Maske auftritt, denn sie ist selbst nur Maske – ein „so als ob“. So verhält es sich auch mit dem Innovations-Wahn, einer populären Attitüde, die beinahe nur in der Bildenden Kunst zuhause ist. In der Musik ist der Innovations-Wahn durch physisch unerträgliches Unbehagen, das er mit sich brachte, an sich selbst gescheitert; in einem Museum kann man aber einiges aushalten, wie unser Kunst- Sammler meint. Dort wo der Innovations-Wahn mit Unerbittlichkeit, mit gravitätischer Wichtigkeit auftritt, wo er Graben-Kämpfe gegen Traditionen führt, wo er sich als allein- seelig-machende-Kirche postuliert – da hat die Attitüde gesiegt, und da ist alles nur ein „so als ob“. Der Innovations-Wahn ist der Akademismus unserer Zeit.

Was nun das Sofa angeht, über dem unser Sammler seine Kunst haben will, so ist es recht –: Die Kunst hänge über dem Sofa – das Bild aber hat seinen Platz vor dem Sofa.